Der schädliche Perfektionismus – Welcome to Burnout-Island

Wenn man sich die Beiträge, Artikel und Social Media Posts aus dem letzten Jahr durchliest, wirkt 2022 wie ein nicht enden wollender Kreislauf aus Angst, Erschöpfung und Krisen.

Hierbei spreche ich jedoch nicht von dem schrecklichen Krieg, der die Welt in Atem hält oder von der Pandemie, die uns mit all ihren Konsequenzen immer noch beschäftigt.

Ich spreche von einer Art der Abhängigkeit, die (aus meiner eurozentristischen Perspektive betrachtet) vor allem die westliche Welt seit Jahrzehnten in Geiselhaft hält – Das Streben nach Vervollkommnung oder, um es korrekt zu benennen: Die Illusion des Perfektionismus.

Fleißig, schön, erfolgreich – Wann bin ich perfekt?

Ich muss gestehen, dass ich von der Selbstoptimierungswelle fast mitgeschwemmt wurde, während ich an mir mit zunehmender Sorge ein immer neues Level an Arbeitssucht, Schönheitswahn und Konsumrausch beobachten konnte.

Wenn ich das richtig verstanden habe, so solltest du:

  1. Gut aussehen, was auch immer das bedeuten mag
  2. Ein optimales Elternteil sein, was du in unzähligen Ausrichtungen von Kindergeburtstagen, Grillfesten sowie als Mitglied des Elternkomitees unter Beweis stellen kannst
  3. In gewissen Altersstufen, bestimmte Konsumlevel erreicht haben (Auto, Haus, Garten, Reisen, etc.)
  4. Dich zu 100% mit der Unternehmensvision deines Arbeitgebenden identifizieren, was sich natürlich in Kennzahlen, hoher Leistung/Flexibilität und einem unübersehbaren „Commitment“ widerspiegelt
  5. Als Unternehmer*in: Deine Seele deiner unternehmerischen Idee opfern, alles andere zeigt, dass du nicht zu 100% hinter deiner Vision/Idee stehst.
  6. Punkt 1-5 mit einem Lächeln absolvieren, sodass andere ebenfalls nach der Leichtigkeit streben können, mit welcher du deine Lebensaufgaben „perfekt“ erledigst, weil du deinen „Purpose“ gefunden hast.

Nun, unser Unternehmen heißt nicht umsonst „UnternehmerRebellen“ und so möchte ich mich entgegen den Trends für einen funktionalen Perfektionismus aussprechen. Dies bedeutet, die oben genannten Punkte zu vergessen oder bewusst mit den dahinterstehenden Erwartungen zu brechen.

Natürlich ist Perfektionismus per se nicht schlecht. Ich bin froh, dass die Chirurgin in der Klinik sich bei einer Auffälligkeit nicht denkt: „Ach, ist sicher nix Schlimmes“ oder die Installateurin einfach eine Dichtung weglässt, in der Hoffnung, es würde auch so halten. Das Streben nach Sorgfältigkeit oder nach Weiterentwicklung ist grundlegend eine positive Voraussetzung für Wachstum, Entwicklung und Zufriedenheit.

Ich lehne allerdings den selbstschädigenden, sogenannten dysfunktionalen Perfektionismus ab, welcher nicht umsonst als ein wesentlicher transdiagnostischer Faktor im Bereich möglicher Krankheitsbilder, wie Bulimie, Depressionen oder Angststörungen gilt.

Wir wissen mittlerweile aus unzähligen Studien, dass dysfunktionaler Perfektionismus auch körperliche Konsequenzen, wie Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, erhöhter Blutdruck, etc. mit sich bringen kann. Unabhängig davon ist Perfektionismus in den meisten Fällen auch noch ein absoluter Produktivitäts- und Kreativitätskiller. Wer sich darin verliert perfekt zu sein, übersieht die Chancen, die sich aus Fehlern, „falschen“ Entscheidungen oder Momenten des „Scheiterns“ ergeben und zwar: Die Stärkung der Resilienz, der Lösungskompetenz und des Innovationsdenkens aufgrund sich stetig verändernden Rahmenbedingungen. 

So verlässt du Burnout-Island

Um den perfektionistischen Kreislauf zu verlassen, welcher in Überlastung, erhöhten Leistungsanspruch, bis hin zum Burnout enden kann, habe ich dir ein paar Ideen mitgebracht, die du selbst ausprobieren kannst:

  1. Erste Selbstdiagnose: Sofern du keine psychopathologische Einschätzung von einem Profi in Anspruch nehmen kannst oder möchtest, kannst du dir im ersten Schritt zunächst die Frage beantworten: Was bedeutet „Perfektionismus“ für mich und gibt es Momente in meinem Leben, in welchem sich dieser äußert? 

Beispiele, worin sich (schädlicher) Perfektionismus äußern kann: 

  • Körper: Du zwingst dich zum Sport, obwohl du eigentlich gar keine Lust hast. Hierbei steht nicht deine Gesundheit und dein Wohlbefinden im Vordergrund, sondern die Angst davor, negativ bewertet zu werden und dadurch nicht mehr dem gesellschaftlichen Bild zu entsprechen.
  • Arbeit: Du sammelst auf der Arbeit fleißig Überstunden, da du das Gefühl hast, dass das Projekt noch nicht perfekt bearbeitet oder von dir abgeschlossen wurde. Du liest hierbei E-Mails öfter und passt diese an, jedoch nicht aus Sorgfalt, sondern weil du Angst vor der Reaktion der/des Lesenden hast.
  • Sozialleben: Du lädst dir öfter andere Personen ein, gehst am Abend regelmäßig aus oder telefonierst ausgiebig mit einer Bekannten, nicht weil du gesellschaftliche und soziale Nähe suchst, sondern um als gute Freundin, Partnerin, Schwester, Tochter etc. zu gelten und zu zeigen, dass du ein gutes und erstrebenswertes Sozialleben führst.
  1. Grenzen setzen und einhalten: Gehe nicht über deine Grenzen hinaus. Probiere eine Woche lang aus, all die Tätigkeiten wegzulassen, die dir keine Freude bereiten.

Beispiele, wie du Grenzen einhalten kannst:

  • Leistung: Buche keinen neuen Kurs, lies nicht das Kapitel des unliebsamen (aber von allen empfohlenen) Buches zu Ende, stelle dich nicht hinter den Herd, sondern lass dich bekochen oder bestelle ausnahmsweise etwas.
  • Me Time: Schalte dein Handy aus und schreibe anderen Personen, dass du eine bestimmte Zeit nicht erreichbar bist. Keine verpflichtenden Treffen, keine Postings, kein Konsum – Tue einfach, worauf du Lust hast: Gehe spazieren, bastle etwas oder werde in anderer Form kreativ. Gib deinem Verstand die Möglichkeit vom Optimierungsmodus in den Kreativmodus zu schalten.
  • Familie: Natürlich ist es hier ein wenig herausfordernder, denn Kinder sind ganz gut darin, alle zeitlichen „Grenzmauern“, die wir hochziehen, liebevoll (und mit ein wenig Geschrei) einzureißen. Vielleicht findest du hier Unterstützung, um dir ein wenig freie Zeit zu verschaffen oder (falls dir das lieber ist), findest du eine kreative Möglichkeit, gemeinschaftlich positive Erfahrungen zu sammeln.
  1. Perfektionsfrei werden: Siehe positive Möglichkeiten in Dingen, die du nicht kontrollieren kannst.

Beispiele, wie du ein perfektionsfreies Verhalten etablieren kannst:

  • Beruf: Was ist gut daran, dass der Kunde/die Kundin mit dem aktuellen Ergebnis unzufrieden ist? Gibt dir das vielleicht die Möglichkeit, dich in ein Thema nochmals einzuarbeiten oder deine Organisationsfähigkeiten unter Beweis zu stellen? Was könnte der Vorteil sein, dass der Vortragende aufgrund von Krankheit nicht zum Event erscheinen kann? Hast du nun die Möglichkeit, die Bühne für dich zu entdecken und mit deiner Person in Erscheinung zu treten? Wir sind manchmal so von unserem Streben nach perfekten (Arbeits-)Abläufen beschäftigt, sodass wir übersehen, welche Chancen in den Dingen liegen, die nicht so klappen, wie wir sie zuvor geplant haben.
  • Privat: Wer ist es nicht leid, die perfekte Partnerin, Liebhaberin, Freundin, Schwester, Mutter, Tochter, etc. zu sein? Gleiches gilt für alle Geschlechter und Menschen und doch liefern wir uns nahezu täglich diesen Wettbewerb aus, von dem wir wissen, dass wir ihn nicht gewinnen können. Ich möchte dich einladen, diesen Wettbewerb bewusst nicht gewinnen zu wollen. Wie wäre es, wenn du jeder Rolle mal ihre Zeit widmest, anstatt sie alle gleichzeitig auszuüben? Ist dir heute danach, mehr Zeit mit deinen Geschwistern oder Eltern zu verbringen, so widme dich gezielt dieser Aufgabe. Falls es eher dein Bestreben ist, partnerschaftlich oder beruflich mehr Energie zu investieren, so nimm dir auch dafür bewusst Zeit. Es geht nicht darum, alle Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten, stattdessen ist es viel entspannter, sich einer Rolle nach der anderen zu widmen, wohlwissend, dass man hier weder etwas gewinnen noch etwas verlieren kann. Und manchmal…legt man einfach alle Rollen ab, schließt die Augen und widmet sich der wichtigsten Person im Leben – Einem selbst.
  • Körper: Wenn du dem gängigen Schönheitsideal nicht entsprichst, ist es an der Zeit, das vermeintliche Ideal zu verändern. Hierbei geht es nicht darum, mangelnde Bewegung oder ungesunde Ernährung zu befürworten, sondern die Möglichkeiten zu sehen, aus dem Status quo auszubrechen. Was könntest DU zu einem unperfekten Trend machen? Magst du deine Haarfarbe besonders? Ist deine Körperform ideal, um tolle Kleider, schöne Schuhe oder Hüte zu tragen? Magst du deine Hände, Schultern oder Knöchel? Auch hier konzentrieren wir uns viel zu sehr auf die „Optimierungsstellen“ an unserem Körper und vergessen, dass unsere Füße uns durch unser ganzes Leben tragen, unser Herz pro Minute 60-80 mal schlägt und uns unsere Haut als größtes Organ vor allen äußeren Einflüssen schützt (Verletzungen, Sonneneinstrahlung, Kälte, etc.). Wir sollten Optimierung durch Dankbarkeit ersetzen und auch hier Möglichkeiten sehen und keine bloßen „Baustellen“. 

Die Welt dreht sich weiter, auch wenn du nicht perfekt bist.

Das interessante ist, dass ich als Unternehmerin und Female Empowerment Coach behaupten würde, dass unsere Erfahrung zu 70% daraus besteht, was wir nicht tun sollten, aus 10%, was wir auf jeden Fall machen sollten und zu weiteren 20%, aus Überraschungsmomenten, die zufällig zu Erfolg oder zu Lernmomenten führen. 

  • Warum streben wir also überhaupt nach Perfektion? 
  • Was bedeutet Misserfolg denn tatsächlich in diesem Kontext? 
  • Was würde passieren, wenn wir keine Familie gründen möchten, kein Haus kaufen, nicht jedem neuen Produkt hinterherlaufen und einfach damit zufrieden sind, wie es ist?

Richtig: Nichts! Die Welt würde sich weiterdrehen, denn wir vergessen, dass wir ein Mensch von (mittlerweile) acht Milliarden sind und sich unsere Eigenwahrnehmung zumeist stark von der Fremdwahrnehmung unterscheiden kann.

Wie schön wäre es also, wenn wir einfach damit aufhören könnten, einem illusorischen Ideal hinterherzulaufen, das wir gar nicht selbst geschaffen haben. Unser Leben passt nun mal nicht in ein und dieselbe gesellschaftliche Gussform – Das nennt man Diversität, Selbstbestimmung und die Macht, eigene Entscheidungen zu treffen.

Nur so verlassen wir die Burnout-Insel, die uns an Schönheitsideale, Leistungsstreben und optimierte Lebenskonzepte ketten möchte und uns dadurch zu leeren, völlig überlasteten und übermüdeten Hüllen formt.

Nachgefragt:

Mich würde deine Meinung zu meinen Gedanken interessieren. Wie nimmst du das Thema „Perfektionismus“ wahr? Beschäftigt es dich persönlich, beruflich, unternehmerisch und hast du vielleicht eine gute Lösung für dich gefunden, die du gerne auch mit anderen teilen möchtest?

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